Über den Wolken

„Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein. Alle Ängste, alle Sorgen, sagt man, blieben darunter verborgen. Und dann würde, was uns groß und wichtig erscheint, plötzlich nichtig und klein.“ So lautet der Refrain des wohl bekanntesten Liedes von Reinhard Mey. Er – ein begeisterter Flieger – beschreibt hier seine Gefühle beim Flug: Mit dem Flugzeug bricht er durch die Wolken und sieht dann über sich nur noch den grenzenlosen Himmel. Das Ganze wirkt so eindrucksvoll, dass die Sorgen, die am Boden noch so bedeutend und bestimmend waren, auf einmal verschwunden sind. Sie sind klein geworden angesichts der überwältigenden Größe der Atmosphäre. Mit einem Flugzeug abzuheben gibt das Gefühl, von niemandem aufgehalten werden zu können: grenzenlose Freiheit.

clouds-310110_640

„Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein…” (Foto: pixabay.com)

Auch wenn mich selbst im Urlaubsflieger mitunter ein recht mulmiges Gefühl überfällt, kann ich beim Blick aus dem Fenster dennoch die Gefühle von Reinhard Mey nachvollziehen. Solche Gefühle gibt es aber nicht nur beim Fliegen. Man kann sie z. B. auch in klaren Nächten beim Blick in den Sternenhimmel erleben oder am Strand beim Blick hinaus auf das Meer. Der Blick in die schier grenzenlose Weite lässt einen zumindest eine Zeit lang manche Enge des eigenen Lebens vergessen. Andere erleben das Gefühl vom Alltag abzuheben ganz anders, z. B. indem sie in die Disco gehen und beim Tanzen im schnellen Rhythmus der lauten Musik die Ekstase fühlen. All diese Gefühle würde man in der Theologensprache „transzendent“ nennen und dies meint etwas, was den Alltag und die alltägliche Erfahrung übersteigt.

Am 6. August feiert die Kirche ein Ereignis, bei dem drei der Jünger Jesu, nämlich Petrus, Jakobus und Johannes, ein ähnlich abhebendes transzendentes Erlebnis geschenkt wurde. Es ist die so genannte Verklärung des Herrn. Leider fällt dieses Fest wegen der Urlaubszeit oft unter den Tisch. Allerdings hören wir auch an jedem 2. Fastensonntag davon, wie Jesus mit diesen drei Jüngern auf einen hohen Berg stieg und dort vor ihren Augen verwandelt wurde. „Sein Gesicht leuchtete wie die Sonne und seine Kleider wurden blendend weiß wie das Licht“, so berichtet der Evangelist Matthäus. Der Lichtglanz ist ein Hinweis auf die Anwesenheit Gottes. Gott ist sichtbar, aber zugleich verhüllt durch die leuchtende Wolke, welche Jesus dann umgab und ihren Schatten auf die Jünger warf. Auch Mose und Elia waren erschienen. Sie haben selbst immer wieder Berge als besondere Orte der Gottesbegegnung erfahren dürfen. Als Vertreter des Alten Bundes machten sie hier nun allen Anwesenden erkennbar, dass dieser Jesus in der Tradition des Bundes Gottes mit seinem Volk Israel steht.
Das alles war für die Jünger ein faszinierendes und beklemmendes Erlebnis zugleich, weil es in gewisser Weise übernatürlich und unfassbar war. Die ganze Situation war transzendent und voller Emotionen. Und wie gerne hätten sie die Gefühle, die sie da überkamen, all das Befreiende, Erhebende, aus ihrem Alltag Loslösende festgehalten. So hätte Petrus am liebsten drei Hütten bauen wollen, um diese Erfahrung nicht mehr zu verlieren. Aber sie mussten wieder hinabsteigen. Und als die anderen Jünger sie wohl später danach gefragt haben, was denn geschehen war, konnten die drei vermutlich nur stammelnd ihre Gefühle und Eindrücke wiedergeben von dem Ergreifenden, was sie da erleben durften. Aber Glaube lässt sich auch nicht einfach erklären und verstehen. Glaube lebt vom eigenen Erleben. Glaube braucht erlebte Glaubenserfahrung und Gottesbegegnung. Das alles aber ist ein großes Geschenk. Doch Gott sei Dank wurde dies nicht nur jenen drei Jüngern zuteil. Ich denke, es gibt viele Situationen, die auch uns in faszinierender und Ehrfurcht gebietender Weise Gott spüren lassen: z. B. in der Feier der Liturgie, in Gesang und Gebet, in ergreifenden musikalischen Werken, im sinnlichen Erleben, in beeindruckenden Begegnungen im Leben, in der Liebe von Menschen untereinander, im Schauen einer überwältigenden Natur. Dies alles und noch viel mehr schenkt uns ein Gefühl von Gott, welches befreit, welches unseren Alltag relativiert, welches uns die Gewissheit gibt, dass es über die Alltagssorgen und dem normalen Alltagstrott noch eine andere, höhere Schicht, eine transzendente Schicht geben muss. Reinhard Mey mag diese Erfahrung im Flieger machen. Petrus, Jakobus und Johannes haben ihre Erfahrung auf dem Berg gemacht. Vielleicht halten gerade die kommenden Ferienwochen auch für uns Gelegenheiten bereit, uns über die Wolken des Alltags zu erheben und die Freiheit und das Leben, das in Gott liegt, neu zu spüren, wo, wann und wie auch immer. Ich wünsche es uns allen.

(Pfr. Thomas Müller)

Kommentare sind geschlossen.